- Hattusa: Eine Kultstätte ungezählter Götter
- Hattusa: Eine Kultstätte ungezählter GötterDie Ruinen bei dem Dorf Boğazköy (heute: Boğazkale) in Zentralanatolien wurden erstmals durch Berichte eines französischen Forschungsreisenden um 1835 bekannt. Die 1906 begonnenen Ausgrabungen zeigten dann, dass hier Hattusa, die Hauptstadt des Hethiterreiches, gelegen hat. Seit 1931 werden mit einer kurzen Unterbrechung durch die Kriegsjahre planmäßig Ausgrabungen durchgeführt, durch die inzwischen ein großer Teil des Stadtgebiets untersucht werden konnte. Die ausgedehnte Stadtanlage gliedert sich in die Königsburg Büyükkale, das Gebiet der Unterstadt einschließlich des Abhanges der Burg, die südliche Oberstadt und schließlich Büyükkaya, eine Vorstadt auf der Nordseite der Schlucht, die das eigentliche Stadtgebiet im Nordosten begrenzt. Büyükkale, durch seine topographische Lage und durch eine starke Befestigungsmauer geschützt, war in der Zeit des hethitischen Großreichs die Residenz der Großkönige und zugleich Sitz der zentralen Verwaltung. Der Palast bestand aus mehreren einzelnen Gebäuden, die sich um Höfe gruppierten. Die Höfe waren teilweise von Pfeilerhallen umgeben. Durch sie wurden die einzelnen Gebäude auch optisch miteinander verbunden. Die Hanglage der meisten Bauten wurde genutzt, um sie ganz oder teilweise zu unterkellern. Erhalten geblieben sind leider fast überall nur die Fundamente, sodass die Raumgliederung und damit auch die ursprüngliche Funktion der Bauten, die von den Archäologen mit den Buchstaben A - K versehen wurden, innerhalb des Palastes nur zum Teil erschlossen werden können. Die Gebäude E und F, die zu dem inneren Palastbereich gehören, haben vermutlich Wohnzwecken gedient, wobei Bau E auch einen kleineren Saal enthielt. Bau D wird in seinem oberen Stockwerk als eine große Audienzhalle rekonstruiert, deren Decke von 25 Holzsäulen getragen wurde. Gebäude A enthielt ein großes Tontafelarchiv; ähnliche Archive waren auch im Untergeschoss der Bauten E und K untergebracht, während in den Kellerräumen unter dem Thronsaal Urkunden aus vergänglichem Material aufbewahrt wurden, von denen nur die Tonbullen mit Siegelabdrücken erhalten blieben. Bau C war wohl ein kleines Heiligtum; einen größeren Tempel hat es anscheinend auf der Burg nicht gegeben.Das Gebiet im Nordwesten unterhalb des Burgberges bildet die schon seit der Karumzeit besiedelte Unterstadt. Durch eine Abschnittsmauer, die einer natürlichen Geländestufe folgt, wird sie in eine obere und eine untere Terrasse gegliedert, wobei letztere wohl erst spät in das Stadtgebiet einbezogen wurde. Auf der oberen Terrasse lag der »große Tempel des Wettergottes« (Tempel I); zwischen ihm und der Stadtmauer gab es ein Wohnviertel mit dicht gedrängten, immer wieder erneuerten Häusern.Wohl in der Mitte des 13. Jahrhunderts, als die Stadt nach einer Zeit des Niedergangs neu ausgebaut wurde, hat man sie durch die Anlage einer über 3,5 km langen neuen Befestigungsmauer um das Gebiet der Oberstadt erweitert. Die neu gewonnene Fläche diente nicht dazu, neue Wohnviertel für eine angewachsene Bevölkerung zu erschließen, sondern ermöglichte es vor allem, neue Tempel und Kultanlagen zu schaffen. Die zahlreichen Gottheiten der neu eroberten Städte und Länder sollten auch in der Hauptstadt Verehrung genießen.Von den fünf Stadttoren in der Mauer der Oberstadt sind die drei südlichen symmetrisch angelegt, mit dem Sphingentor in der Mitte. Es wurde am höchsten Punkt der Stadt auf einer künstlich aufgeschütteten Erhebung gebaut, die außen zu einer rechteckigen Bastion gestaltet wurde. Ein Tunnel, eine Poterne, führte vom Inneren der Stadt nach außen. Von den beiden Seiten her führte je eine Treppe auf die Bastion hinauf. Das Tor selbst ist innen und außen mit insgesamt vier Sphingenfiguren versehen. Die beiden Sphingen der Außenseite sind als Protome gestaltet, das heißt nur Kopf, Brust und Vorderbeine wurden ausgearbeitet; die Figuren auf der Innenseite des Tores füllten dagegen die ganze Tiefe der Torlaibung aus; sie wurden auf drei Seiten teils rundplastisch, teils als Relief gestaltet. Auf diese Weise wurden die Sphingen in einzigartiger Weise zu Trägern des Tores. In ihrer plastischen Form zeigt sich die ganze Meisterschaft der hethitischen Bildhauerkunst des späten 13. Jahrhunderts.Auch die beiden anderen, symmetrisch angelegten großen Tore der Oberstadt blieben nicht ohne plastischen Schmuck. Am Löwentor wurden wie am Sphingentor auf der Außenseite die Vorderteile der Tierfiguren aus den riesigen Blöcken der Torwangen herausgearbeitet. Bei dem Königstor trägt die linke Wange auf der Innenseite das Bild einer männlichen Figur im Hochrelief. Der kurze Schurz, die Bewaffnung und der Hörnerhelm sprechen für eine Deutung als Götterbild. Seit vor einigen Jahren unweit des Tores ein Relief mit einer Figur Tutchalijas IV. gefunden wurde, die diesen mit Schurz und Hörnermütze zeigt, ist die Frage wieder offen, ob das Torrelief nicht doch eben diesen Herrscher darstellt und die Bezeichnung »Königstor« so ihre Rechtfertigung findet. Im Stil entspricht das Torrelief den besten Werken der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.Zu dem Königstor führt von außen ein Weg empor, der durch ein vorkragendes Mauerstück mit Turm zusätzlich gesichert war. Die Torbauten selbst wurden mit den beiden vorspringenden Türmen, zwischen denen die Torkammer lag, als selbstständiger Baukörper in die Mauer eingefügt. Nach innen schließt sich an das Königstor der Kultbezirk des Tempels V an. Wie die anderen innerhalb der Stadtmauer auf etwas erhöhtem Gelände gelegenen Heiligtümer zeichnet er sich durch seine Größe und eine verhältnismäßig aufwendige Bauweise aus. Zu seinem Eingang führte ein Aufweg empor. Auf der Nordost- und Nordwestseite dieses Tempels war der Mauersockel mit aufrecht stehenden Steinplatten verkleidet. Bei den Tempeln II und III gab es dagegen einen Sockel aus sorgfältig behauenen Quadern. Diese Tempel bilden zusammen mit Tempel IV den südlichen Abschluss einer Senke, in der eine Vielzahl von größeren und kleineren Tempeln längs einer um die Senke herumführenden Straße aufgereiht lag. Sie bilden als »zentrales Tempelviertel« zu Füßen des Sphingentores den Mittelteil der Oberstadt. Nördlich dieses Viertels liegt der Nişantepe, an dem sich die Wege vom Löwentor, aus dem Tempelviertel und vom Königstor treffen. Diese Felskuppe, die der Königsburg gegenüberliegt, muss einen sehr wichtigen Bau getragen haben, der von Nordosten her über eine Rampe erreicht werden konnte. Erhaltene Bruchstücke von Skulpturen erlauben es, am Eingang zu diesem Gebäude ein mit Sphingen verziertes Tor zu rekonstruieren - ein Hinweis auf eine kultische Funktion des Baus. An dem Fels selbst hat Suppiluliuma II., der letzte Herrscher der Großreichszeit, eine lange Inschrift anbringen lassen, die allerdings wegen starker Verwitterung kaum lesbar ist.Auf dem Plateau um den Nişantepe lagen einige weitere bedeutende Bauten. Aus dem Brandschutt des Westbaus konnten Tausende von Tonbullen mit Siegelabdrücken geborgen werden, die ursprünglich an den Dokumenten befestigt gewesen sein müssen. Unter den Siegeln des Archivs befanden sich Siegel von Königen und Beamten aus der gesamten Zeit des hethitischen Großreichs, vor allem aber aus den letzten Jahrzehnten vor seinem Untergang.Südöstlich des Plateaus von Nişantepe lag ein rechteckiger künstlicher Teich mit einer Fläche von fast 6000 m², der von gepflasterten Böschungen eingefasst wurde. Das Wasser kam durch eine Rohrleitung von außerhalb der Stadt. In dem Becken wurden Votivgaben gefunden, die zeigen, dass dieser See nicht nur praktischen Zwecken diente.Zur Anlage des künstlichen Teichs wurde auf der Nordwestseite ein Damm aufgeschüttet, der an beiden Enden von außen zugängliche, aus Steinblöcken errichtete Kammern überdeckte, bei denen es sich um Neubauten aus der jüngeren Bauphase des Teiches handelt. Kammer 2 am Nordende konnte aus den erhaltenen Steinen wieder aufgebaut werden. Ihre Rückwand nahm eine Reliefplatte mit dem Bild des Sonnengottes ein, der in der üblichen Tracht mit langem Mantel, Krummstab und der von einer Flügelsonne bekrönten halbrunden Kappe dargestellt ist. An der rechten Seitenwand ist auf den beiden unteren Blöcken eine sechszeilige Hieroglypheninschrift angebracht, die Suppiluliuma II. als Bauherrn dieser als »göttlicher Steinpfad in den Untergrund« bezeichneten Anlage nennt. Links neben dem Eingang ist der Bauherr selbst dargestellt. Er trägt Schurz und Hörnermütze der Götter, hat einen Bogen geschultert und hält in der vorgestreckten rechten Hand eine Lanze. In seiner Ikonographie entspricht dieses Herrscherbild genau dem Felsrelief von Karabel. Stilistisch unterscheiden sich die beiden Reliefs der Kammer 2 von den Bildwerken der Zeit Tutchalijas IV. In dem Verzicht auf eine stärkere plastische Differenzierung der Oberflächen stehen sie den Reliefs von Alaca Hüyük näher, von denen sie sich allerdings durch die Umrissgestaltung und die ausgewogenen Proportionen abheben.Gegenüber der Königsburg auf der anderen Seite der Schlucht liegt das Felsmassiv von Büyükkaya, auf dem die Hethiter durch künstliche Aufschüttungen drei in der Höhe abgestufte Terrassen geschaffen haben. Die Anlage wird von einer starken Befestigungsmauer eingefasst, die mit drei Toren und mehreren unter der Mauer durchführenden Passagen (»Poternen«) versehen war. Die aufwendige Bauweise, die auch bei den wenigen bisher auf Büyükkaya festgestellten Bauresten der hethitischen Großreichszeit zu bemerken ist, spricht dafür, dass diese Vorstadt innerhalb des gesamten Stadtgebietes eine besondere Funktion besaß. Ihre Nachbarschaft zu dem außerhalb der Stadt gelegenen Felsheiligtum von Yazɪlɪkaya bietet hierfür vielleicht eine Erklärung.Prof. Dr. Winfried Orthmann
Universal-Lexikon. 2012.